Freitag, 17. August 2012

Lucidity




When I was 5 years old, my mother always told me 
that happiness was the key to life. When I went to school, 
they asked me what I wanted to be when I grew up. 
I wrote down ‘happy’. 
They told me I didn’t understand the assignment, 
and I told them they didn’t understand life.

- Prolog - 


Ich fühlte mich zum ersten Mal lebendig. Wie neugeboren im richtigen Leben. Der Wind, der mir um die Ohren pfiff, brachte mir den Geruch des fernen Meeres und  den Blütenduft vom Blumenmeer  aus dem Tal vor mir. Er trug mir die vielen Geräusche vom Rauschen der Pflanzen, Summen der Insekten und dem Brechen der Wellen, die zusammen eine einzigartige Stille schufen, zu und füllte meinen Gehörgang. Ich saß direkt am Abhang, die Hände hinter mir auf den Fels gestützt und die Füße frei in der Luft baumelnd, und genoss das Naturtheater. Fürs Auge die Landschaftsbühne und für die Ohren der Naturchor.

Links von mir stand die Kiste mit den Erinnerungsstücken an meine Vergangenheit: Das Holzauto aus Nepal, ein paar Fotos von meiner Mutter und mir aus einem Fotoautomaten, mein Abschlussvideo und diverse Schmuckstücke und Ketten, die mir meine Mutter als Kind gebastelt hatte. Ich saß dort sicher ein paar Stunden, denn ehe ich mich versah, verwandelte sich der Ozean in ein Flammenmeer. Wie in Zeitlupe stürzte der riesige Feuerball dem fernen Horizont entgegen. Unaufhaltsam und grausam schön. Als die Kollision von Sonne und Meer kurz bevor stand öffnete ich meinen Rucksack und fingerte den Spiritus hervor. Langsam, beinahe andächtig ließ ich der Flüssigkeit freien Lauf auf die Kiste zu meiner Linken. Ein letzter Blick, das Ratschen des Streichholzes und die schweren, schwarzen Schwaden oberhalb des Zündkopfes – Dann ging meine Vergangenheit in Flammen auf. In perfekter Symbiose mit dem Feuer der Welt am fernen Horizont, stand auch meine eigene, kleine Welt in Flammen.



Ich hielt die Kiste wie ein Priester mit beiden Armen in die Höhe, mittlerweile war ich aufgestanden, und überließ sie meinem riesigen Altar. Ich verfolgte den Flug des brennenden Klumpens mit kindlicher Neugier. Durch den Abwind von der zerklüfteten Felswand weggeschoben, strebte er in schwankenden Bewegungen dem Abgrund entgegen, bis er schließlich hinter einem Vorsprung verschwand und sich meinem Blickfeld entzog. Die Sonne war mittlerweile untergegangen und der Schleier der Nacht hatte sich um mich gelegt.

„So, Jan. Jetzt ist es wohl so weit.“, sprach ich im Gedanken. „Na dann.“

Die Landschaft verschwand, mein Blickfeld füllte sich mit Dunkelheit.

Stille.


- Erstes Kapitel -

„Komm rein, ich bin gleich fertig. Ich muss nur noch schnell meine Mails checken.“ Die Frau mit den langen, dunklen Haaren und den großen braunen Augen stand halb in der Wohnungstür, halb auf dem Sprung in den Flur und wirkte fröhlich-gehetzt. Wie immer, wenn sie zu Hause war, trug sie ihre Schlafkleidung. "Hi, Mama. Siehst frisch aus."
"Echt? Ja, ich hab auch seit Tagen endlich wieder gut geschlafen!", rief sie mir vom Weg ins Wohnzimmer zu. "Ich hab von Omi geträumt."
Ich zog meine Schuhe aus und ging ins Bad um mir das Gesicht kalt abzuspülen. 
"Ganz schön warm für April, ey!", brüllte ich. Falls sie was erwidert hatte, hörte ich es nicht, denn das Rauschen des Wasserhahns füllte meinen gesamten Gehörgang aus.
Kaum war ich aus dem Bad, stand sie fertig umgezogen vor mir und war zum Aufbruch bereit. 
"Wie machst du das?", "Was meinst du?", sie drehte sich im Hausflur zu mir um und sah mir zum ersten Mal in die Augen.
"Naja, deine.. also unsere Oma hat dir doch so viel bedeutet und du bist total fit und so." 
"Ach Jan, ich hab damit doch schon vor längerem abgeschlossen, war doch klar, dass es so kommt." Sie umarmte mich. Als sie sich abwendete, war ich mir sicher, dass ihre Wangen vorher noch nicht so geschimmert haben. Sie setzte beim Treppensteigen die Sonnenbrille auf und war wieder so frisch wie zuvor.
Wir waren auf dem Weg nach Chemnitz, zur Beerdigung von meiner Uroma. Als wir mit dem Zug die Stelle passierten, wo ihr Vater rund 30 Jahre zuvor seinen Körper der Regionalbahn überließ und sich auf die Schienen warf, zog sie kurz die Nase hoch, als hätte sie Schnupfen. Als ich sie darauf ansprach, meinte sie es wäre nichts.
Als wir endlich ankamen begann, direkt nach der Ankunft, das klischeehafte, kirchliche Theater der Beerdigungszeremonie. Es war meine erste Beerdigung und auch wenn ich keine richtige Beziehung zu meiner Oma hatte, war ich allein durch den Friedhof und die ernst dreinblickenden Sargträger in einer andächtigen, trauernden Stimmung. Ich war genervt davon, dass meine Cousinen, 12 und 16 Jahre, die ihr ganzes Leben in der Nähe von ihr verbracht hatten, ununterbrochen nervös kicherten und sich über die Anzugträger lustig machten. Aber vielleicht habe ich auch überreagiert. Es war meine erste Beerdigung, da ich generell nicht viel Verwandtschaft habe, und da auf Dörfern öfter gestorben wird als in der anonymen Großstadt, stand ich den beiden mit meinen 22 Jahren einiges an Todeserfahrung nach.
Nach dem Leichenschmaus, was nebenbei ein scheußlicher Begriff ist, zog ich mich zurück und erwachte erst am nächsten Tag, kurz bevor wir wieder zurückfuhren.
Ich war überrascht, wie sehr mich das ganze Zeremoniell mitgenommen hat. Auch die nächsten Tage war ich, auch wenn ich oft mit viel Tatendrang aufwachte, den Tag über und am Abend aber ruhig bis melancholisch. Ich begann viel über den Tod nachzudenken, wie ich reagieren würde, wenn jemand stürbe, der mir näher stand als meine Großmutter. Ich erinnerte mich daran, wie meine Mutter in der Badewanne lag. Mein Vater und sie waren ein Jahr zuvor über Ungarn von der DDR in die BRD geflohen und hatten sich in Hamburg eine kleine Wohnung gemietet. Sie hatte zu der Zeit eine Depression, oder wie man es wahrscheinlich richtig bezeichnet eine "depressive Verstimmung", und war oft nachdenklich. Als ich sie fand war ich grade 3. Die einzige bildliche Erinnerung an dieses Ereignis ist die viele rote Farbe, mit der die Kacheln bemalt waren. Die Narbe ist heute noch sichtbar. Aus Erzählungen weiß ich mittlerweile, dass ich ganz ruhig zu meinem Vater ins Zimmer kam und mich beschwert hab, dass das Badezimmer vorher besser aussah.
Zu der Zeit habe ich festgestellt, dass man nie zu sehr über den Tod nachdenken sollte. Besonders in traurigen Lebensphasen. Wenn man nicht aufpasst, kann das bleibende Schäden hinterlassen. 

Rausgeholt aus diesem Lethargie-Loch hat mich dann der Alltag. Ich war zu der Zeit bei einem Veranstaltungsdienst beschäftigt: Ausstellungen überwachen, bei Festivals den Einlass kontrollieren und ab und an Türsteherdienste in Clubs und Bars in Berlin. Arbeit lenkt ab. Sie macht nicht frei, wie manche behaupten mögen, aber sie lenkt dich ab vom Nachdenken, von Langeweile oder Müßiggang und wenn du ein karriereorientierter Mensch bist, kann sie dein Leben bestimmen.
Aber frei ist man sicherlich nicht. Frei wird man erst, wenn man die Ernte der Arbeit einholt, das Geld mobilisiert, sich frei nimmt und in den Urlaub fährt. Vorzugsweise nicht zu einem Badestrand, sondern mit ein oder zwei Freunden auf eine Wandertour in Nepal, eine Fahrradtour durch Portugal oder mit dem Mietauto durch Amerikas lange Straßen, Dauer: etwa 6-8 Wochen. Wichtig ist, dass man in Bewegung bleibt. Kein festes Ziel, kein Rückzugsort, keine Verpflichtungen. So kommt man der Freiheit zumindest ein Stück näher, als eingepfercht in einem Swimmingpool, zwischen Strandkörben oder linearen Ski-Abfahrten zu sein. Nur leider hat so ein Zeitraum, in Bezug auf ein Menschenleben nur ein Wimpernschlag, einen sehr hohen Preis. Eine Vorbereitungszeit von einigen Jahren, zumindest wenn man als durchschnittliches Mittelklassenkind weder reiche Eltern und Verwandte oder ein Familienerbe hat, noch das Arbeitslosengeld von seinen Eltern und sich als einzigen Reichtum. Ausgangspunkt ist ein normaler Beruf, ein normaler Lohn, normale Verwandtschaft, normale Freunde und ein normaler Lebensstil. Wenn man so durchweg normal ist, liegt die kurze Freiheitsperiode zwar in deinem Einflussbereich, ist allerdings mit der oben angesprochenen Vorarbeit verbunden.
Wenn man es jedoch soweit gebracht hat und kurz hinter den Vorhang der Freiheitsbühne lugt, möchte man auch den ganzen Kuchen. Wie durch einen packenden Filmtrailer wird man angefüttert. Man möchte nicht nur kurz reinschnuppern, man möchte den ganzen Spielfilm sehen. Anfang, Hauptakt und Ende.
Das ist der zweite Aspekt der zeitweisen Freiheit: Die unstillbare Sehnsucht, das unzähmbare Verlangen, dieser Erfahrung, dieser Sucht erneut und kontinuierlich nachzugehen. Daher kann es, von einigen schwer zu ergatternden Berufen oder einem bedeutenden, gesellschaftlichem Status einmal abgesehen, mitunter schwer fallen sich mit der Unerreichbarkeit zurechtzufinden und nach dem anfixen wieder auf Kaffee und Zigaretten umzusteigen. 
Kurze Zeit nach dieser Gedankenwulst traf ich Julia. Es war Ende April und ungewöhnlich warm für diese Zeit. Ich war mit ein paar Freunden und Bekannten grillen, es wurde gelacht, getrunken, geküsst und gegröhlt. Als ich dann irgendwann, lange nach Einbruch der Dunkelheit den Rückweg antrat, fand ich an der Straße ein Fahrrad, das nur mit einem Scheinschloss gesichert war. Vom Alkohol beflügelt übertrug ich es in meinen Privatbesitz und fuhr schunkelnd los. Meine rasante Hatz nach Hause endete auf dem Bordstein einer großen Kreuzung, die aufgrund der späten Stunde glücklicherweise wenig befahren war. Mein vergifteter Körper war nicht mehr in der Lage den Schutzmechanismus „Hände“ auszufahren, und so landete ich ungebremst auf dem lauwarmen Asphalt. Mein Gesicht war dem Rest meines Körpers dabei um eine Nasenlänge voraus.
Während ich mich dort also ästhetisch in meinem Blut suhlte, schob sich ein Schuh in mein Sichtfeld. Er stieß mich leicht an die Schläfe. „Hey, lebste noch?“, sprach der Schuh. Falls ich etwas sagte, hatte er mich nicht gehört, denn zu den Schuhen gesellten sich noch zwei Hände, die mich auf den Rücken drehten. Ich würde gern sagen, dass ich in ein bezauberndes Gesicht gesehen und direkt die nächsten Monate und Jahre mit ihr vor Augen hatte, aber keine optischen Reize durchdrangen den schwarzen Vorhang der sich ständig vor meine Augen schob. Sie brachte mich mit dem Taxi zum Krankenhaus, bezahlte sowohl den Fahrer als auch die 10 Euro Krankenhausgebühr, drückte mir einen Zettel mit ihrer Handynummer in die Hand und schob mich mit den Worten „Falls du deine Wohnung nicht findest.“,  durch die Schiebetür der Notaufnahme.
Am nächsten morgen, gegen 17 Uhr, rief ich sie dann an und bot ihr eine Aufwandsentschädigung in Form eines Starbuckskaffees am nächsten Tag an. Als wir uns dann trafen hatten wir, dem Unfall sei Dank, eine ganze Menge an Gesichtsgulasch als gemeinsames, sättigendes Gesprächsthema. Durch den lockeren Einstieg ermutigt, erzählten wir uns Erlebnisse, Gedanken und Ansichten, die man selbst guten Freunden nur nach 5 Wodka-Energy, einem halben Kasten Bier, seltsam bunten Pillen und bei nahezu vollständigem Verlust der Muttersprache nur ungern anvertraut. Wir trafen uns die nächsten Tage ständig, der eine war im Leben des anderen omnipräsent. Bereits nach dem ersten Treffen schliefen wir miteinander. Es war wie alles, was darauf folgen sollte: viel zu wild, viel zu leidenschaftlich, viel zu schön. Wir erlebten in zwei Wochen, was einige Paare in Jahren, einige gar nicht erleben. Eine Beziehung im Zeitraffer. Zwei ganze Leben, im Schnelldurchlauf vorgespult. Der Plot einer langjährigen Beziehung. Die Höhepunkte einer Beziehung, die ähnlich wie die Kaugummibällchen aus den großen Plastikkugeln, die früher jede Kneipe zierten, normalerweise lange halten. Wohldosiert, für täglich ein bis zwei mal zehn Pfennig gibt es einen Kaugummi voll Glück. Aber wir konnten den Hals nicht vollkriegen. Wir zogen Kaugummi um Kaugummi bis uns auch das nicht mehr reichte, bis wir schließlich die Kugel aufrissen und uns in den Berg aus süßer Masse fallen ließen. 
Es folgte das Unvermeidliche: Irgendwann war dieser Vorrat aufgebraucht. Schneller als es einer von uns es erwartet hätte. Dennoch war keiner sonderlich überrascht, als wir uns an einem Sonntag im Mai entschlossen getrennte Wege zu gehen. 
Und damit war dieser Abschnitt vorbei. Es ist komisch, wenn ich daran zurückdenke – Ich kann keine klaren Empfindungen aus dem Gefühlssalat herauskristallisieren, mit denen ich die Zeit beschreiben könnte. Würde man mich fragen, könnte ich nicht mit Gewissheit sagen, ob das eine schöne oder grauenvolle Erfahrung war.
Aber rückblickend auf mein Leben bis hierhin würde ich es in die Spalte „POSITIVE EINFLÜSSE“ einordnen, da ich nie ein Beziehungsmensch war. Meine Unschuld verlor ich mehr aufgrund von äußerem Druck, als aufgrund eigenen Antriebs. Ich wollte einfach nicht den Gesprächsstoff verpassen, wollte wissen wovon die anderen sprachen. Ich konnte mich zwar immer ziemlich gut mit Halbwissen durch alle Lebenslagen mogeln, aber es ist doch ein erhöhter Selbstwertfaktor, wenn man wirklich weiß wovon man spricht. Ich meine, die körperliche Nähe – Sei es Sex, ein inniger Kuss oder auch nur eine offenherzige Umarmung – ist eines der Aspekte, für die ich das Mensch-Dasein liebe. Die Pornobranche und der pure, harte Geschlechtsverkehr war für mich aber nie wirklich eine Alternative. Ich würde mich nicht als Romantiker bezeichnen, denn mit Romantik hat das überhaupt nichts zu tun. Dennoch gibt es gewisse Übereinstimmungen von Romantik und mir: Die schönste Frau verblasst vor einer ehrlichen Umarmung eines Freundes oder einer Freundin. Aber Romantik schließt auch zwangsläufig eine Beziehungsaffinität mit ein, zumindest laut meiner Definition; und die ist bei mir nun überhaupt nicht vorhanden.
Ich hege grundsätzlich erstmal einen Greul gegen alles Alltägliche oder Regelmäßige bis mir diese Regelmäßigkeit stichhaltig bewiesen hat, dass es sich lohnt sich an sie zu halten. Und das war bei mir und der holden Weiblichkeit einfach nie der Fall. Ich bin auch insgesamt nicht unzufrieden mit meinem Liebesleben seit meiner Geschlechtsreife. Ich schiele nur manchmal neidisch auf glückliche Paare und hätte auch gern, was die haben. Nicht die Beziehung, sondern die Fähigkeit eine Beziehung zu lieben.


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© Meti G. 2011

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